Davor Ljubičić  

Zeppelin Museum Friedrichshafen, 2003


Steckt das, wonach du verlangst, nicht schon längst in dir?


Eine Rauminstallation aus 5 Elementen in 7 Teilen:
Gegenüber dem Eingang ein identisches photographisches Abbild der Eingangstür
2 Kästen mit Video-Monitoren, jeder ein Auge des Künstlers mit seinem individuellen Schließrhythmus zeigend, darüber jeweils eine Glühbirne hängend montiert
Ein Messer, auf seiner Spitze stehend und 260 cm hoch
2 Zeichnungen 150x250 cm, jeweils eine ausgestreckte Hand und ein Messer zeigend
Ein aus der Wand ragender Kegelstumpf, in dem ein Video läuft

Wir befinden uns in einem Raum der Illusionen. Sicher: wir  haben es bei den im Raum exponierten Ausstellungsteilen mit materiellen Dingen zu tun, aber niemand sollte davon ausgehen, dass sich aus dieser Materialität allein irgend ein Sinn erschließen ließe. Einzeln betrachtet, sind einige der Elemente der Installation nahezu surreal, sowohl, was ihre Ausführung, als auch, was ihre Komposition betrifft. Es offenbaren sich bei genauerem Hinsehen vielfältige Beziehungen zwischen den Elementen der Installation. Alle einzelnen Arbeiten in diesem Ausstellungsraum gehören zur selben, umgreifenden Arbeit, die unter dem Ausstelungstitel steht.

1. Beziehung:  Betreten kann man diesen Raum nur durch die Eingangstür. Zwar sieht man der Eingangstür diagonal gegenüber eine zweite Tür. Diese erweist sich jedoch rasch als erste und deutliche Illusion: Es handelt sich bei ihr um eine fest auf Aluminium aufgezogene laminierte Photographie einer Tür. Wenn wir uns ihr nähern, entdecken wir, dass sie mit nur äußerst geringem Abstand vor der Stirnwand des Ausstellungsraumes so aufgehängt ist, dass sie das gleiche Niveau wie die Eingangstür hat. Drehen wir uns dann um und schauen zur Eingangstür, so entdecken wir, dass die „Illusionstür“ ein exaktes Abbild dieser Eingangstür ist. Um dies zu akzeptieren, muss man in ihrer unmittelbaren Nähe, wenn man also der Illusion bereits auf die Spur gekommen ist, nur noch von gewissen dreidimensionalen Eigenschaften der echten Eingangstür abstrahieren. In diesem Augenblick weiß man dann mit Sicherheit, dass der Raum, wenn man ihn verlassen will, noch einmal durchquert werden muss. Ein- und Ausgang dieses Raumes sind identisch. Der Ausstellungsort dieser Installation ist kein Durchgangsraum. In gewisser Weise nötigt er die Besucher, nach missglücktem Versuch, den imaginierten zweiten Ein- und Ausgang zu erreichen und zu durchschreiten, sich noch einmal rückläufig mit den weiteren Elementen der Installation zu befassen. Eine konkretere Hinführung zur Kunst kann man sich kaum vorstellen.

Mit dieser Beziehungskonstruktion haben wir die erste reflexive Schleife des künstlerischen Konzepts durchlaufen. Wir sind in einem Raum und müssen uns bewusst auf ihn beziehen. Wir entdecken, dass der materielle Inhalt des Raumes eine Komposition darstellt. Sobald die Illusion der „zweiten Tür“ entdeckt wurde, kann man erkennen, dass diese Komposition aus insgesamt 7 Sätzen besteht. Die Illusionstür ist nicht unbedingt der erste oder bedeutendste Satz. Aber sie ist der erste Gegen-Satz in dieser beziehungsreichen Installation.

Die erste Beziehung innerhalb der Installation haben wir also begriffen oder rekonstruiert. Gehen wir über zur zweiten, wobei die Reihenfolge in gewisser Weise beliebig, also keine Wertung ist.

2. Beziehung:  In der Rekonstruktion der ersten Beziehung haben wir feststellen können, dass erste optische Eindrücke täuschen können. Der nächste zusammenhängende Detailkomplex der Installation besteht aus zwei relativ eng nebeneinander angeordneten hölzernen Kuben. Sie sind allseitig mit Graphit imprägniert, „graphitiert“, wie der Künstler sagt. Mittig an ihrer Oberseite ist jeweils ein Video-Monitor installiert, der senkrecht nach oben seine Bildwiedergabe abstrahlt. Die Videosequenzen zeigen die beiden Augen des Künstlers, die sich in ihrem natürlichen, durch die verschiedenen Aufzeichnungen jedoch jeweils unterschiedlichen Rhythmus öffnen und schließen. Auf Grund der unterschiedlichen Schließrhythmen scheinen die Augen zu blinzeln. Dies ist jedoch ein Nebeneffekt. Sie verleihen der gesamten Installation etwas „Augenzwinkerndes“. Ich will darauf hinweisen: den Humor des Künstlers sollte man in keiner möglichen Ausprägung unterschätzen ...

Warum konzentrieren sich die beiden Augen auf diese Glühbirnen, die an langen Stromkabeln von der Raumdecke herabhängend nur knapp über ihnen schweben? Die Antwort ist ebenso kurz wie wahr: Diese Augen starren nicht ins Nichts oder ins Unendliche, sondern ins Licht. Sie schauen das an, was sie repräsentieren: denn sehen können Augen nur das natürliche Licht – und das ihm physikalisch nachgeahmte künstliche. Hier offenbart eine schier bedrohlich wirkende Konstellation – man denkt unwillkürlich an Verhörsituationen unter grellem Licht, an Lichtfolter und Schlafentzug etc. – dadurch, dass ein natürlicher Schließrhythmus der Augen beibehalten wird, dass Augen, Sehen und Licht unmittelbar zusammen hängen.

Zugleich sind beide nicht eins. Denn ohne eine Lichtquelle sind Augen blind. Ohne Augen wiederum wären Lichtquellen vielleicht irgendwelche physikalischen Objekte, jedoch niemals optische. Wir verstehen: Das, was hier situativ für sich genommen so widersprüchlich, ja widerwärtig wirkt, bekommt im Kontext seinen ihm angestammten einfachen Sinn. Die Illusionstür hat uns zunächst getäuscht. Ebenso täuscht uns die Augen-Glühbirnen-Anordnung. Aber dort, wo uns die Photographie die Probleme, vielleicht sogar die Grenzen unserer optischen Differenzierungsfähigkeiten aufzeigt, verweist uns die senkrechte Video-Installation auf elementare physikalische Wahrheiten. Das Auge muss, um zu sehen, nicht selber strahlen, also so etwas wie „Sehstrahlen“ emittieren, um etwas sehen zu können. Nein, die Augen sind Rezeptoren, deren ganze Aktivität im Sortieren und Verarbeiten optischer Impressionen bestehen. Erst das, was nach diesen Prozessen in unserem Wahrnehmungsapparat verbleibt, gilt uns als visuelles Erlebnis.

Nun macht uns gerade diese Betrachtung auf ein Implement der Monitor-Glühbirnen-Anordnung aufmerksam, die noch nicht in der Analyse mitschwang. Es ist die Tatsache der reduzierten (selektiven in diesem Sinn) Wahrnehmung. Denn sowohl Lichtquelle wie Rezeptoren ändern sich nicht während der Dauer der Installation. Hier drängt etwas ganz anders Zwanghaftes in die Interpretation als der Gedanke an Folter. Das eigentlich Mystische ist ja bekanntlich die Wirklichkeit, und die sieht für die meisten Menschen heute doch so aus, dass sie – uneingedenk des andauernden Ankündigens von Neuem und Sensationellem durch die Medien – der ewigen Wiederkehr des Gleichen ausgeliefert sind. Es drängen sich Elemente der Archäologie des Alltagslebens in die Kunst-Kunstbetrachter-Situation. Es entsteht eine neue Situation der Erinnerung an etwas, was aktuell nicht vorhanden ist und doch mittelbar deutlich präsent. Davor Ljubicic macht uns auf die Quellen unserer optischen und intellektuellen Unzulänglichkeiten aufmerksam: die Zwänge des Alltagslebens.

3. Beziehung:  Das wird noch vertieft durch die Dreiecksbeziehung innerhalb der Installation, die ich die „Messerbeziehung“ nenne. Irgendwo im Raum, aber nahe zum Eingang, sehen wir ein riesiges Messer. Es scheint auf seiner Spitze zu stehen und ausbalanciert zu sein. Das Messer ist 2,60 Meter hoch. Seine Gestaltung entspricht der eines großen Universal-Küchenmessers. Der Holzgriff ist dreifach genietet - ein Zeichen höchster Verarbeitungsqualität – und lackiert.

Am Messer links vorbei sehend finden wir zwei große Zeichnungen im Format 1,50x2,50 m. Sie zeigen je eine Hand und ein Messer. Auf der linken Zeichnung weist die Hand waagerecht nach rechts, den Handrücken nach oben, und ein Messer – ähnlich dem „großen Messer“ – kreuzt die Finger auf Höhe des mittleren Gelenks. Der Griff weist Richtung Betrachter, die Position ist ungefährlich, weil der Kontakt zur Hand durch den Messerrücken hergestellt ist. Im Grunde haben wir hier eine absurde Komposition vor uns.

Auf dem rechten Bild kreuzt die Hand, Handfläche nach oben, diagonal von rechts unten nach links oben das Papier. Unabhängig davon, wie eng oder weit die Zeichnungen auseinander hängen, die Hände bilden perspektivisch einen rechten Winkel. Das tun auch die Messer, deren Griffenden sich optisch im 90°-Winkel treffen. Der Griff des rechten Messers weist also links am Betrachter vorbei (scheinbar) und „schneidet“ die Hand in Höhe der großen Querfalte mit seinem Rücken. Wir haben eine zwar surreale, aber streng geometrische Komposition vor uns.

Alle drei Messer der „Messerbeziehung“ lassen ihre möglichen Verwendungsweisen assoziieren. Und wir wissen alle, dass sogar das harmloseste Werkzeug gegebenenfalls zum tödlichen Instrument werden kann. Letzteres wissen wir jedoch nur „unfallweise“ aus unserem Leben. Den meisten Menschen ist die tödliche Bedrohung durch ihre alltäglichen Begleiter eine unbekannte Größe. Zwar erzieht man seine Kinder immer nach dem alten Sinnspruch „Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder nicht“ und hat auch recht damit. Doch allzu schnell haben wir alle den Umgang mit dem potentiellen Gefahrenmaterial gelernt, und wenn überhaupt, so geschieht uns nur wenig Schädigendes durch sie.

Gleichwohl assoziiert man mit dem großen Messer so etwas wie das Damoklesschwert. Es „schwebt“ drohend über – nein, nicht uns, sondern – dem Boden. Sollte es, auf wessen Verschulden hin auch immer, aus seiner Aufhängung ausreißen und herabstürzen, so würde es den Fußboden des Ausstellungsraumes beschädigen. Ist diese Bedrohung real, und was könnte sie im Rahmen dieser Komposition symbolisieren?

Hier ist die Größe des Messers entscheidend. Die monumentalen Ausmaße weisen zwar zunächst darauf hin, dass es sich um kein Messer für den täglichen Gebrauch handeln kann. Aber die Größe lässt Gewicht, Masse, Zerstörungskraft, somit übermenschliches Bedrohungspotential assoziieren. Stürzt dieses reale Gegenstück zu den eher harmlosen Messern auf den Zeichnungen wirklich zu Boden, so gefährdet, ja bedroht es auch alles, was sich auf diesem Boden, also in diesem Raum befindet. Mit seinem Anblick kann, sowohl innerhalb der Komposition als auch separat, ein Angstgefühl einher gehen.

4. Beziehung: Zudem korrespondiert das hängende Messer mit den hängenden Glühbirnen. Dadurch bekommen diese nun doch auch etwas konkret Bedrohliches, Ängstigendes. Denn Augen erscheinen dem Menschen als etwas besonders Kostbares. Die Dominanz visueller Reize in unserer Alltagswelt hat in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dieses Gefühl – ob grundsätzlich berechtigt oder nicht – noch zu verstärken. Und wir wissen aus leidiger Erfahrung, dass übermäßiger Lichteinfluss oder die Nähe einer Wärmequelle unsere Augen beeinträchtigen und sogar ernsthaft schädigen können. Beides kann sogar zur „Blendung“ führen, zum teilweisen oder kompletten Gesichtsverlust (Verlust des Gesichtssinns). Scharfe Gegenstände wie ein Messer können den gleichen Effekt haben – ob durch einen Schnitt, Stich oder die altertümliche Strafe des „Blendens“ durch eine glühende, vor die Augen gehaltene Messerklinge etwa.

Das Umgreifende der Komposition: Es gibt kein Entrinnen aus der Komposition: außer dem sofortigen Rückzug. Ein Durchlavieren kommt nicht in Frage. Mit der Entdeckung der Illusionstür ist man in die Falle gegangen. Nun muss man sich seinen Ängsten stellen. Aber woher kommen die? Wie kann sich plötzlich nach cool-sachlicher Einzelanalyse der Installationselemente doch ein Gefühl der Bedrohung einstellen, sobald man diese Elemente als Ensemble begreift? Es sind die Gefühle der Ausweglosigkeit und des Ausgeliefertseins, die laut Definition „Angst“ erzeugen.

Beide Gefühle stellen sich nicht einfach ein. Beim erwachsenen Menschen ergeben sie sich eher aus Erfahrungsabgleichen. Man begibt sich ja bewusst in nahezu alle Situationen. Deren situative Zustände können jedoch sehr unterschiedlich sein. Nicht alle davon habe ich gleichermaßen im Griff. Problematische Situationen vermeide ich, oder ich begegne ihnen mit angepassten Verhaltensweisen. Das bedeutet: aus Erfahrung kann ich Angst antizipieren und begrenzen, sodass ich handlungsfähig bleibe. Das trifft auf unser Alltagsleben wohl generell zu.

In einer exponierten künstlichen und künstlerischen Umgebung funktioniert dies nicht. Hier finde ich eine zunächst undurchschaubare Situation vor, die mir allerdings Zeit für eine rationale Analyse lässt. Nach der Analyse kenne ich die möglichen Bedeutungen der Installationselemente und sehe Beziehungen zwischen ihnen. In unserem Fall sind sie in der Hinsicht widersprüchlich und so problembeladen, als sie sowohl Harmlos-Alltägliches in symbolischer, magisch-realistischer oder sogar surrealer Bildsprache vermitteln, andererseits genau durch diese „Stilelemente“ einen Bedrohungscharakter schließlich in allen Elementen der Installation offen legen. Würde nun ein 15 cm langes Schälmesser von der Decke hängen, wirkte die Installation lächerlich. Es liegt in der Überdimensionierung, ebenso in der allzu großen Nähe zwischen Monitoraugen und Glühbirnen, also im Illusionscharakter der Elemente, dass wir Bedrohliches in ihnen erkennen. Und erkennen bedeutet dann: wieder erkennen. Wir lassen uns durch die Konstellation und die Ausführung der Elemente dazu bringen, Erfahrungen (sogar imaginäre) zu beschwören, die in uns liegend auf den Mechanismus von Angst und Bedrohung hinweisen. Wir interpretieren die Ausstellung und Erschauen unser Innerstes.

Dies alles bündelt und komprimiert sich endlich im letzten Teil der Installation, dem Doppelkonus gegenüber der Illusionstür. Hier wird das Thema der Installation letztlich besiegelt.

Der Vulkan der Emotion: Aus der Wand links neben dem Eingang ragt eine konische, graphitierte Holzkonstruktion in den Raum hinein, die vorne offen ist. Dass die Form des Kegelstumpfs an einen Vulkan erinnert, wird durch Graphitierung noch verstärkt, weil man durch sie unwillkürlich an Basalt denkt, vulkanisches Gestein. Man kann in den „Krater“ hineinsehen. Es öffnet sich ein wiederum, diesmal in Richtung Wand konisch sich verjüngender „Schlot“. An dessen Grund scheint das Magma glutrot zu kochen. In Wahrheit sehen wir eine rot eingefärbte Videosequenz auf einem ca. 20 cm großen Monitorausschnitt. Sie zeigt zwei Hunde, die sich ineinander verbissen haben und bis zum Tode miteinander kämpfen. Die offensichtliche tierliche (im Unterschied zu menschlicher) Brutalität der Sequenz wird durch das “Blutunterlaufene“ der Einfärbung noch gesteigert. Wir spüren sofort, dass die Unterscheidung zwischen tierlich und menschlich nicht stimmen kann. Denn bei den Hunden handelt es sich um gezüchtete Kampfhunde, also um Menschenwerk. Auch ihr Kampf ist Menschenwerk, weil sie darauf – wie auf den tödlichen Verlauf – trainiert wurden. Tierisch ist also das richtige Adverb der gezeigten Brutalität. Warum züchten und erziehen Menschen Hunde in tierischer Absicht?

Das, was den Menschen unter den Primaten so dominant hervortreten lässt, ist, dass er in keinem unmittelbaren Verhältnis mehr zur ihn umgebenden Natur steht. Er hat die Natur transformiert, zu seiner Ressource denaturiert, „agrikulturiert“. Damit sichert er seine Existenz und Subsistenz. Kultur ist die spezifische menschliche Leistung, bedeutet Schöpfertum und erfordert ständige Hege, Pflege und Entwicklung. All dies leistet der Mensch seit seinen Anfängen als „Homo“. Aber alle seine biologischen Verwandten, die erwähnten Primaten insgesamt, sind Tiere. Er teilt den größten Teil seiner biologischen Vergangenheit mit ihnen, auch deren Entwicklungsprodukte folglich. Und unsere tierische Vergangenheit sitzt im Stammhirn, dem ältesten Teil unseres Cerebrum. Von dort kommen unsere Restinstinkte, Urängste, unsere Freund-Feind- oder Opfer-Beute-Schemata, unsere Emotionen. Beim Homo sapiens sapiens, zu dem wir alle heute gehören, werden die Stammhirnimpulse normalerweise durch die Aktivität des Großhirns gefiltert und gedämpft, was uns im Umgang miteinander unserer Kultur entsprechen lässt. Überbordende Emotionen können jedoch diese mäßigenden Einflüsse wiederum ausschalten. Und dann wird es schnell ganz dunkel. Bei dem, was daraus folgen kann, sprechen wir gerne von Untaten – von Handlungen, die keine sind, weil der wohlüberlegte Plan fehlt, der den kultivierten Menschen auszeichnen würde. Im Affekt handeln, also nicht handeln, sondern unkontrollierbar getrieben werden von dumpfen Mächten in uns, so heißt es oft mildernd in Urteilen.

So arg muss es aber gar nicht kommen. Denn das Kulturwesen Mensch hat Wege gefunden, sein biologisches Erbe zu ritualisieren, das heißt in seine kulturellen und sozialen Prozesse in sublimierter Form zu integrieren. Nicht allen Menschen kommt dies zupass, viele dieser Rituale sind verpönt, manches ist mancherorts strafbar. Aber das sagt nichts gegen ihre kulturelle Notwendigkeit aus. Der Mensch muss mit seinem komplexen bio-psycho-sozial geformten Ego zurecht kommen, es müssen ihm also Mittel an die Hand gegeben werden, sämtliche seiner Aspekte in den persönlichen und sozialen Reproduktionsprozess einbeziehen zu können. Der Komplex private und öffentliche, persönliche und sozial sanktionierte Gewalt gehört dazu. Daher neigen wir beim Interpretieren dieser Ausstellung so offensichtlich zum Thema Gewalt und Angst. Beides liegt in uns als Teil unserer natürlichen wie kulturellen Vergangenheit und Geschichte. Und beides bewirkt von Zeit zu Zeit bei allen Menschen emotionale Eruptionen, unkontrollierbare Wallungen, für deren Folgen wir verantwortlich sind, auch wenn wir uns keiner Schuld bewusst sind. Auf der anderen Seite können wir nur nach etwas verlangen, was wir längst kennen. Verlangen ist eine Emotion, und die kann nicht kreativ sein.

Dr. Johann-Peter Regelmann

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