Davor Ljubičić  

„DER SCHRANK  - H 95 – B 114 – T 51“, 2003
 
Die Präsentation der neuen Installation von Davor Ljubicic gemahnt auf den ersten Blick an ein Denkmal. Sie steht auf einem angedeuteten Sockel, ist gegen die Umgebung durch ein Absperrtau abgegrenzt, welches von vier tautragenden Pylonen gehalten wird, und sieht durch die Graphitierung – das Markenzeichen des Künstlers – auch ein wenig nach verwittertem Gestein aus. Dieser Zelebrationscharakter des Installation gehört wesentlich zur Komposition. Worauf dadurch wirklich unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird, ist eben „der Schrank“. In einer Phase der Ruhe wie dieser Begrüßungs- und Einführungsphase kann er auch an einen Altar erinnern, den Opfertisch sakraler Stätten. Aber geopfert wird hier nichts. Höchstens Gehör und Gesicht der Betrachter müssen der Lautstärke ein Opfer bringen, wie Sie wahrscheinlich bereits gemerkt haben.

Denkmals- wie Altaranalogie, obwohl selbst als solche nicht stimmig, verweisen aber auf eine andere Deutung ebenfalls, aber nicht notwendig, sakralen Charakters: Die des Schranks als Tabernakel, als Allerheiligstes, das von einem nur bedingt Einblick gewährenden Raum umschlossen wird. Und so verhält es sich auch wirklich mit dem Schrank: Im Rhythmus von 90 Sekunden öffnen und schließen sich wie wunderbar, jedoch ganz weltlich von Elektromotoren mechanisch angetrieben, die Türen. So werden uns Einblicke in das Innenleben dieses Tabernakels ermöglicht. Und die sind keineswegs erheiternd. Unter einem unablässigen Wasserfluss kniet ein Mann – es ist der Künstler selbst – in einem Raum aus Steinquadern. Bis auf wenige bemerkbare und unwillige Bewegungen verharrt der Mann regungslos mit gesenktem Haupt. Haltung und Wasserfluss lassen zunächst eher an eine Situation der Folter als an reuige Andacht oder Buße denken. Das auch deswegen, weil der Mann bereits ein weißes Hemd trägt. Weiß ist ja bekanntlich die Farbe bzw. das Symbol der Unschuld, der Reinheit von Sünde, wenn man so will. Dass Folter vielfach Unschuldige trifft, wäre eine zwar nahe liegende, aber doch etwas arg simple Interpretation. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch das Wasser, dessen Symbolik ja die Katharsis, die Reinigung ebenfalls von Schuld und Sünde umfasst. Aber von was in aller Welt soll denn hier derart tiefengereinigt, was soll so vehement abgebüßt werden, und zwar in gesteigerter Symbolik wie Realität?

In dieser Beziehung muss keine Ungeduld aufkommen. Denn kaum hat man die kathartische Situation der Videoprojektion auf die Rückwand des Schranks erfasst, drängt sich ein zweites Bild über das erste. Cinéasten erkennen sofort die berühmte Sequenz aus dem Fritz Lang-Film „M – Die Mörder sind unter uns“ wieder, in der der gestellte Kindermörder, gespielt von Peter Lorre, seine „Verteidigungsrede“ hält. Aber der Kontrast zum ersten Bild könnte größer nicht sein: Denn in der Verteidigung des Mörders schwingt kein Motiv von Reue und Bußfertigkeit mit, er bringt keine Entschuldigung gegenüber den Hinterbliebenen seiner Opfer vor. Aber er ent-schuldigt sich selbst durchaus. Indem er nämlich seine innere Zwangslage, sein psychisches, ja pathologisches Dilemma beschwört und herausschreit. Er will gar nicht morden, aber er muss! „Will nicht, muss!“ Und dann stellt er die Frage: „Wer weiß denn schon, wie es in mir aussieht?“

Kehren wir an dieser Stelle zurück zur Komposition der Installation. Der Zelebrationscharakter wurde bereits hervorgehoben. Der Denkmalsaspekt könnte bei zweitem Nachdenken dahingehend konkretisiert werden, als mit der Installation ein Denkmal der einzig ewigen conditio humana, nämlich des psychischen Dilemmas der realen Einheit von Freiheit und Zwang in unser aller Lebensprozess gesetzt wird. Auf dem nochmals reflektierten Altar würde dann die Aussicht geopfert, diesem Dilemma jemals zu entkommen. Und die Einsicht in genau diese Notwendigkeit erlaubt uns dann das Auf und Zu des Tabernakels. Ausschnittweise öffnet sich das Seelenkästchen und offenbart sein Innerstes. Seltsamerweise beschränkt sich dies anscheinend auf eine einzige, allerdings komplexe, in sich widersprüchliche und doch unmittelbar einleuchtende Situation: des sich Überblendens zweier widerstreitender Seelen in unserer Brust. Sie scheint naturnotwendig zu sein, so will uns der Künstler bedeuten. Man tut, was man tut, weil man es tun muss, also wie unter Zwang, und zwar alles! Obwohl man dadurch per definitionem nicht schuldig werden kann, lädt man sich im Angesicht der Gesellschaft, zu deren Produktions- wie Reproduktionsprozess wir alle mit unserem Tun beitragen, dennoch Schuld auf. Die Abgrenzung eines Individuums von der Gesellschaft, in der es lebt und wirkt, besteht ja darin, gerade diese so wichtige Einbindung als Zwang zu empfinden. Diese Empfindung wird von der Gesellschaft als Sünde sanktioniert. Dafür straft das Individuum die Gesellschaft mit Verachtung immer dort, wo es sich deren Normen entzieht. Das heißt aber auch: da sich dies alles in ein und demselben Menschen abspielt, der Individuum und gesellschaftliches Subjekt zugleich ist, spielt jeder aktive Mensch mit sich selbst Räuber und Gendarm, Katz und Maus, Heiliger und Sünder.

Jedes Individuum wird aber auch vor sich selbst schuldig, sobald und so weit es sich als gesellschaftliches Subjekt wertet. Warum wird altruistisches und prosoziales Handeln und Verhalten nicht angemessen honoriert? Weil das dementsprechende Individuum diesen Dank gar nicht will und vielmehr als störendes Missverständnis werten müsste. Auf der anderen Seite wird ein prosoziales sich Öffnen eines Individuums von der Gesellschaft eher als Schwäche denn als lobenswert betrachtet und ausgenutzt. Negativ gewendet wird also jedes aktive und reflektierte Individuum sowohl vor sich als auch vor der Gesellschaft unschuldig schuldig, selbst dann, wenn es nur das Beste will. Der berühmteste Topos der Kulturgeschichte zeigt sich hier in aller ewigen Lebendigkeit. Es ist das Motiv des Ödipuskomplexes, wie man es seit Freud nennt: Unschuldig schuldig werden, das göttliche Thema der altgriechischen Dramatik. Diese Installation ist eine Verbeugung vor dieser unausweichlichen Situation und eine Hommage an die im Individuum gespiegelte conditio humana.

Dr.Johann-Peter Regelmann

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