Davor Ljubičić  

Schleuse 16, Kunstverein Böblingen, 2002

5 Schränke – 5 Köpfe – 5 Stimmen


das ist das, was Sie in dieser Ausstellung sehen und hören, meine Damen und Herren. Wie gehört das alles zusammen, was will das einzeln oder im Ensemble aussagen und wie tut es das gegebenenfalls?

Ein verbindendes Element sind bei der ersten Annäherung oft Techniken und Materialien. Beginnen wir mit den Zeichnungen. Davor Ljubicic fertigt sie mit Graphitstiften, mit stark graphithaltigem Bleistift 3B auf Canson Zeichenpapier an, wobei er pro Kopf ziemlich genau 1 ½ Stifte benötigt. Die Köpfe schauen alle in die gleiche Richtung, was ihrer Erscheinung insgesamt etwas sehr Einheitliches, Formiertes, ja Uniformiertes gibt. Die Blattgröße des Papiers beträgt 150x200 cm, die Köpfe sebst sind ca. 120 cm hoch und etwas schmaler.

Die Schränke sind mit Graphit imprägniert, wie es heißt, also wie zum Schutz vor etwas äußerlich behandelt. Warum? Der Künstler bezeichnet den Zustand der Schränke gerne auch als „graphitiert“, was doppeldeutig ist und auch zwei ganz andere Anhaltspunkte für den Betrachter bietet: zum einen wäre ein „Imprägnieren“ eines Schrankes nach üblichem Verständnis zunächst einmal ein unverständlicher Akt – der Schrank ist schließlich keinerlei Witterungs- oder sonstigen Einflüssen ausgesetzt, die ihn substantiell oder funktional bedrohen wie einen Wettermantel etwa. Und dann beinhaltet das Wort „graphitieren“ das griechische Wort für Zeichnen oder Zeichnung „graphein“. Dies bedeutet, dass die Schränke weniger imprägniert sein sollen als vielmehr gezeichnet; vor allem von der Handschrift des Künstlers, für den Graphit seit vielen Jahren, genauer: seit 1991, das bevorzugte künstlerische Material ist, an dem man ihn erkennt; und sodann gezeichnet von den Problemen, die hinter dem Kunstwerk stehen.

Graphit, um kurz dabei zu bleiben, ist ein sehr widerständiges Material. Das amorphe Pulver geht nur sehr ungern Verbindungen ein, weswegen Davor Ljubicic es in langwierigen Prozeduren z.B. mit Honig oder doppelt gekochtem Leinöl bindet. Durch den zwar lange dauernden, aber unaufhaltsam fortschreitenden Zerfallsprozess der organischen Trägersubstanzen des Graphitpulvers verändern sich seine damit gefertigten Kunstwerke natürlich. Graphitverbindungen sind nicht dauerhaft – das haben sie mit manchen Imprägnaturen gemeinsam. Aber im hier und heute vorliegenden Beispiel ist das Graphit mit Wasser und Acrylmalmittel vermischt und dadurch dauerhafter, auch durchaus imprägnierend. Trotzdem sind die graphitierten Schränke für Zwecke außerhalb dieser Installation unbrauchbar geworden. Sie sind unwiderruflich als Kunstwerke gezeichnet.

„5 Schränke – 5 Zeichnungen“ lautet der Ausstellungstitel. In der Mitte des Ausstellungsraumes stehen die graphitierten Schränke eng aneinander. Allemannisch gesprochen haben wir einen „Schränkehock“ vor uns. Das umso mehr, als die Schränke scheinbar miteinander „schwätzen“. Dies aber eben nur scheinbar: denn sie reden alle dasselbe, wenn man genau hin hört. Daher gehören die 5 Stimmen für mich gleichberechtigt in den Ausstellungstitel. Diese 5 Stimmen dringen in mittlerer Lautstärke aus den innen schwach mit gelben Glühbirnen beleuchteten Schränken, deren Türen leicht geöffnet sind. 5 verschiedene Menschen sprechen eine Sequenz aus der bei Cinéasten berühmten Verteidigungsrede des von Peter Lorre so unvergleichlich eindringlich gespielten Kindermörders aus Fritz Langs Film „M – Die Mörder sind unter uns / Eine Stadt sucht einen Mörder“. Durch das ganze kompositorische Arrangement lässt sich dieser Teil des Kunstwerks zunächst als symbolische Darstellung eines „inneren Monologs“ interpretieren, weniger als ein Polylog. Auch hier wieder das Phänomen des Uniformismus.

Dem widerspricht natürlich das Thema, das die 5 Stimmen so unterschiedlich reflektieren. Der Mörder muss sich in der Vorlage vor einem Tribunal verantworten, das selbst aus Verbrechern jeglicher Couleur besteht. Das ist natürlich besonders delikat: Das Tribunal vereinigt Menschen, die sich willentlich und wissentlich organisiert und sich bewusst dazu entschlossen haben, ihren Lebensunterhalt mit der ganzen Bandbreite illegaler, krimineller Machenschaften zu verdienen. Sie wollen das so. Sie alle sind vollbewusste Täter, die jedoch ihrem Tun – seines Unrechtsstatus eingedenk – möglichst ungestört nachgehen wollen.

Da stört natürlich jemand, der mit seinem Tun die Justizmaschinerie so auf Trab bringt, dass das Verbrechersyndikat nicht nur um seine Einkünfte, sondern sogar um seine persönlichen und geschäftlichen Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten bangen muss. Dieser Täter ist aber auch von einem noch ganz anderen Kaliber als die ebenfalls zum Syndikat gehörenden Mörder und Totschläger. Und das schreit er auch in seiner Not heraus: „Nicht will – muss!“ Das ist keine Entschuldigung, und auch kein Zeichen von Reue. Es beschwört nur sein furchtbares Schicksal, in den Augen der Öffentlichkeit und speziell der Betroffenen ein ebensolches Scheusal, ein Monster zu sein – aber auf der anderen Seite „gar nichts dafür zu können“. Er will ja gar nicht – etwa so wie seine Kollegen vom Tribunal – , er muss. Und er muss auch, konfrontiert mit der Anklage des Tribunals in einem Moment, da er gerade nicht Opfer seiner Triebe ist, sein Problem reflektieren und dazu Stellung beziehen. Und so spricht er etwas an und aus, was alle anderen Menschen auch andauernd thematisieren: Den Widerspruch von Fremdbestimmtheit und Befreiung, - Selbstbefreiung. Für uns in unserem ganz anderen Zusammenhang sprechen 5 Menschen diese Sequenz, die also nicht mehr im ursprünglichen Zusammenhang stehen darf, auch wenn dessen Kenntnis das Verständnis erleichtert.

Nicht nur sprechen alle Menschen über dieses Problem, sie suchen auch aktive Auswege aus ihrem je persönlichen Dilemma ihres Freiheitsdrangs. Und jeder versucht unter normalen Umständen zugleich, seine Befreiungsversuche so zu gestalten, dass sie nicht mit dem gesellschaftlichen Grundkonsens so elementar konfligieren wie im Falle des Triebtäters. Trotzdem: auch diese Menschen müssen das tun, was sie tun. Anders sie denn nicht ihr seelisches Gleichgewicht halten können. Und jeder müsste eigentlich auch ständig darüber nachdenken, ob durch dieses „tun müssen“ der Widerspruch von Zwang und Befreiung wirklich aufgehoben wird.

Auf diese Weise lässt unsere Installation durch ihre kompositorischen Mittel die furchtbare kontextuelle Ausgangssituation der Textsequenz hinter sich und artikuliert unmittelbar ein allgemeines gesellschaftliches Problem des Menschen. Denn: Die Dialektik von Tun und Lassen löst sich ja nicht einfach dadurch auf, dass beim animal rationale ja auch das Lassen bekanntlich ein Tun ist. Nein, diese Dialektik perpetuiert sich in einen vor-rationalen und nicht-zirkulären Prozess des Tuns als Nicht-lassen-könnens. So werden wir folglich alle zu zwanghaften Triebtätern, was natürlich als eklatanter Widerspruch erscheinen muss – was es aber gar nicht ist. Wir sind nun einmal so!

Die 5 Schränke symbolisieren also einen seelischen Konflikt des Menschen, des scheinbar so vernünftigen gesellschaftlichen Wesens, das sich in seinen Befreiungsversuchen entrationalisieren will und damit in ein permanentes soziales Dilemma gerät. Diese gespannte psychische Lage ist eine Grundbefindlichkeit der Menschen in der organisierten rationalen Gesellschaft. Die Seele, repräsentiert durch den Schrank, diese „Seelenkammer“, öffnet sich nie sehr weit, vor allem nicht in der Öffentlichkeit der Gesellschaft. Sie leuchtet daher auch nicht in ihrer je ganz besonderen Eigenart, ja Einzigartigkeit hervor, die wir doch so stets wie gerne jeder Einzelne für uns reklamieren. Und das, womit sie sich dann doch – im Schränkehock – sozial annähert, ist stets das allgemeinste (a-)soziale Modell des gesellschaftlichen Wesens.

Nun betrachten wir die 5 Köpfe. Durch die äußerliche Anwendung von Graphit sind die „Seelenkammern“ mit den Köpfen aus Graphitstift auf abstrakte Weise verbunden. Ein konkretes Zuordnungsproblem taucht aber nicht auf, es wäre nicht wesentlich für die Interpretation. Auch deshalb nicht, weil sich die Köpfe so ähneln. Nach imaginären Vorbildern gezeichnet, weisen sie zwar alle einige individuelle Unterschiede auf. Wie beim realen Menschen entdeckt man die aber erst nach bekundetem Interesse und näherer Betrachtung. Prima facie sind uns ja unsere Mitmenschen, vor allem in der Masse, gleich gültig. Aber diese Égalité ist eine verrückte Tatsachenverdrehung und hat mit französischen Revolutionszielen nicht viel zu tun. Denn Gleichgültigkeit ist ein individuelles Urteil über alle Anderen – die sind uns nur egal, aber eben nicht gleich gültig. D.h., sie können nie so viel Geltung für mich haben wie ich selbst vor mir. Und aus solchen und genau so denkenden Individuen setzt sich unsere Gesellschaft zusammen. Kein Wunder funktioniert die so schlecht.


Video:

In einem anderen Raum können wir ein Video sehen, in das die Originalsequenz aus „M“ mit Peter Lorre eingeblendet ist. Zunächst sieht man allerdings den Künstler selbst im weißen Hemd in einer Ecke eines gefliesten Raumes knien. Von oberhalb seines leicht gebeugten Kopfes strömt Wasser auf ihn herab, er ist völlig durchnässt. Manchmal bewegt er sich leicht, aber er verlässt seine unbequeme Haltung nicht. Das ruft beklemmende Gefühle hervor. Diese Bewegungen wiederholen sich von Zeit zu Zeit, und wir erkennen irgendwann, dass es sich um eine Endlosprojektion einer an sich nicht all zu langen Sequenz handeln muss. Trotzdem haben seine leichten Bewegungen etwas Bedrückendes, denn sie weisen unsere Fantasie dahingehend an, dass sie von einer durch Zwang herbeigeführten Haltung der nassen Person ausgeht und man sich selbst plötzlich unwohl fühlt. Unterstützt wird dies noch durch die seufzenden Pruster, mit der der Kniende ab und an versucht, ein gelegentliches Zuviel an Wassers abzuwehren und sich darüber wortlos zu beklagen. Ein Gedanke an Zwang und sogar Folter kann sich einstellen. Und dann kommt als Überblendung Peter Lorre ins Bild und beschwört sein Schicksal: „Wer weiß denn schon, wie es in mir aussieht?“ Und dass er dann sich nicht mehr helfen kann, dass er „nicht will – muss!“.

Wer „M“ nicht kennt, nie selbst gesehen hat, der weiß natürlich nichts von einem Kindermörder, der von einer ganzen Stadt hilflos, von der ganzen Polizeimacht vergeblich und schließlich von seinen kriminellen Häschern mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gestellt wird. All dies, die eigentliche soziale Dramatik und inhaltliche Dynamik des Films, kann dieser Mensch nicht kennen. Er wird am ehesten noch die Thematik von Schuld und Sühne, von Sünde und Verdammnis oder Erlösung assoziieren. Auch, um solchen Betrachtern zu helfen, wird in der Installation die Textsequenz von 5 verschiedenen Menschen mit der ihnen jeweils eigenen Intonation und Hintergrundinterpretation bzw. –kontextuierung gesprochen. Und dann wird auch das Übergreifende der gesamten künstlerischen Aktion sichtbar: Nämlich, dass es sich nicht um wahllos zusammengestellte Objekte handelt, die der freien Assoziation jedes Einzelnen anheim gestellt werden. Sondern dass sich jeder einzelne Betrachter und Zuhörer in szenischen Arrangements seiner Fantasie, also der unvoreingenommenen Zuordnung je einer Zeichnung zu einem Schrank zu einer Stimme, selbst gespiegelt findet, dass er eingebunden ist. Spätestens die mit der kathartischen Wirkung des Wassers verbundene Symbolik des Videos wird ihn erkennen lassen, dass es um das grundlegendste Problem des Einzelnen in der Gesellschaft geht: Wie entkomme ich dem Zwang der gesellschaftlichen Einbindung, ohne die systemische Struktur dieser Gesellschaft, auf die ich angewiesen bin, zu zerstören? Und: Wie ertrage ich meine eigenen Befreiungsambitionen, von denen ich genau weiß, dass sie auf ganz private und oft nur imaginäre Weise die gesamte Gesellschaft und damit das Recht ihrer Individuen in Frage stellen, mir gleich gestellt zu sein? Wir plädieren hier für einen fantasievollen Umgang mit diesem Problem, nicht dafür, hinter jedem auch noch so abstrus erscheinenden Befreiungsversuch eines Individuums gleich einen fehlgeleiteten Triebtäter zu vermuten. Immer, wenn jemand so reagiert, sollte er sogleich in sich gehen und bekennen: Auch ich muss alles, was ich tue, tun, sowohl wenn ich will als auch, wenn ich nicht will!

Dr. Johann-Peter Regelmann

links    hoch    rechts