Davor Ljubičić  

Graphitieren und Imprägnieren


Graphit

Graphit ist ein Mineral, das aus der Umwandlung bituminöser und kohliger Ablagerungen von einst organischen Substanzen enstanden ist. Aus der Tiefe der Erde kommend, ist es mit deren Entstehung und Geschichte verknüpft, die weiter zurück reicht als die Entstehung und Geschichte des Menschen. Es ist ein weiches, metallisch glänzendes Material, das, anders als die tiefschwarze, einfallendes Licht gänzlich absorbierende Kohle immer noch einen mehr oder minder intensiven Abglanz davon wiedergibt. So könnte man sagen, dass es weder die An- noch die Abwesenheit von Licht repräsentiert, sondern eine Erinnerung daran.

Davor Ljubicic arbeitet seit nunmehr zehn Jahren mit diesem Material, das ihm in Form von Stiften oder als Pulver zur Verfügung steht. Papier, Alltagsgegenstände und Objekte, die Rahmen seiner Bilder hat er zum Teil vollständig mit dieser Substanz überzogen, die er mal mit Honig oder Leinöl gebunden, mal rein verwendet. Sogar der Fußboden seines Ateliers ist ganz von diesem Stoff durchdrungen und verwandelt diesen in eine von den Tritten polierte, glatte Fläche, die der Oberfläche eines tiefen Sees oder einem dunklen Spiegel gleicht. Davor Ljubicic nennt das Zeichnen und Schwärzen mit Graphit graphitieren und imprägnieren.


Sarajevo/Dubrovnik: Schatten und Dunkelheit

Das Werk des Künstlers hat sich in aufeinanderfolgenden, in sich abgeschlossenen und zugleich miteinander verbundenen Zyklen entwickelt. Es beginnt 1984 mit der Diplomarbeit "Arbeit = Kunst, Kunst = Arbeit", die zusammen mit Werken anderer Kunststudenten anlässlich der Olympiade in Sarajevo zu sehen war. Während seines Studiums an der dortigen Akademie hatte sich Ljubicic ausschließlich mit Zeichnen und Ölmalerei beschäftigt. Den geschützten Raum der Kunstakademie verlassend, suchte er den Kontakt und die Auseinandersetzung mit dem Publikum. Er stellt an dieses die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Arbeit.

"Arbeit = Kunst": diese Formel hatte, ein Dezennium zuvor, Joseph Beuys als Kernsatz seines erweiterten Kunstbegriffs aufgestellt. Doch wie sich die beiden nach wie vor als konträr erlebten Tätigkeitsbereiche genau zueinander verhielten, ob Kunst als Arbeit oder Arbeit als Kunst zu gelten hätte, und wie sich Arbeit und Kunst gegenseitig befruchten sollten, diese Frage war offen geblieben. Im Titel seiner Aktion macht Davor Ljubicic deutlich, dass für ihn die Arbeit in der (freien) Kunst und nicht die Kunst in der (fremdbestimmten) Arbeit aufgehen sollte. Ziel ist die Befreiung der Arbeit und ihre Erhöhung zur Kunst und nicht die Domestizierung und Degradierung der Kunst zur Arbeit.

Mit Handwerkszeug und diversen Materialien ausgerüstet, plazierte sich Davor Ljubicic für seine Aktion in der Mitte eines markierten Kreises auf einem zentralen Platz der Stadt. Er zersägt Holzlatten in gleich lange Stücke und schichtet sie zu einem Haufen. In eine lange Schnur knüpft er nacheinander Knoten. Beide Tätigkeiten demonstrierten ein sich wiederholendes, mechanisches Tun sowie die Strukturierung von Zeit, die als zentrale Wesensmerkmale der Arbeit gelten können. Nach Beendigung seines Tuns packt er die Requisiten zu einem Bündel zusammen, entkleidet sich und übergießt sich mit blauer Farbe. Der vorgegebene und repetitive Prozess der Arbeit wird kontrastiert vom kreativen, einmaligen, aus sich heraus erzeugten Akt der künstlerischen Äußerung - welche in diesem Fall besagt: der Mensch ist die Kunst. Als Ljubicic den zuvor als Zone der Kunst definierten Kreis verläßt und den Raum des Alltags wieder betritt, wird er von Polizisten verhaftet und für einige Zeit festgenommen.

Die Erfahrung der Freiheitsberaubung führt zu einer Radikalisierung seiner Position. So wandelt sich Davor Ljubicic in den folgenden Jahren konsequent vom vielversprechenden Akademieabsolventen und Malertalent zum "Enfant terrible" der jugoslawischen Kunstszene. Mehr als zwei Jahre, 1985 bis 1987, beschäftigt er sich mit dem Werkzyklus "Skizze für ein Bilderbuch", der Bilder aus der heilen Kinderwelt mit Horrorgeschichten kombiniert. Das Bilderbuch umfasst Collagen und Assemblagen, bestehend aus Malerei sowie Fotos und Erinnerungsstücken aus der eigenen Kindheit, unterlegt und kommentiert von absurd-makabren Texten. Gleichzeitig finden Teile daraus Eingang in Installationen und Performances, in denen Ton und Licht zum Einsatz kommen. Ljubicic konfrontiert in diesen theatralen, multimedialen Darbietungen das Alltägliche und Harmlose mit dem Unheimlichen, Dämonischen und Abgründigen.

In den Performances tritt Davor Ljubicic in selbst geschneiderten Kleidern auf, die er auch im normalen Leben trägt, um die Trennung von Künstler und Privatperson aufzuheben. Die Kleidung ist schwarz, die eingesetzten Lichtprojektionen dienen der Erzeugung dunkler Schatten. Und eines Tages verbannt er die Farbe gänzlich aus seinem Werk, indem er alle Farben zusammenmischt und Bilder und Objekte mit dem schmutzig-braunen Gemisch übertüncht. Der Akt kommt einer Auslöschung gleich, einer Auslöschung der Lebenszugewandtheit. Insofern die Farbe die Vielfalt des Lebens wiedergibt, kommt die Negation der Farbe einer Negation des Lebens gleich. Ljubicic reflektiert damit das lebensfeindliche, Leben zerstörende Klima, das zu dieser Zeit in Jugoslawien herrscht. Zugleich aber mag der Verzicht auf Farbe auch der Beuys'schen Idee entsprechen, dass diese - und damit eine positive Lebenshaltung - sich, quasi komplementär, im Bewußtsein des Betrachters selbst entfalten müsse.

Zwischen 1988 und 1991 entstehen die "Absurden Objekte", Raumklanginstallationen in Verbindung mit Performances. Dabei finden nun mit Graphit übermalte Fotos Verwendung, in denen sich der Künstler in unangenehmen Körperstellungen ablichtet. Mehr als zuvor wird damit der eigene Körper zum Medium und Spiegel der menschlichen und gesellschaftlichen Deformationen.

Den Kontakt mit einer breiteren Öffentlichkeit aufzunehmen, ist von Anfang an ein Ziel seiner künstlerischen Tätigkeit. Mit der mobilen "Galerie der schwarze Punkt", die von nun an da ihren Ort hat, wo Davor Ljubicic mit einer künstlerischen Aktion in Erscheinung tritt, schlägt er einen neuen Weg zur Erschließung kunstfremder Räume ein. Erster Austragungsort ist die Boutique "Luca" in Dubrovnik, eingerichtet in einer ehemaligen Kapelle. Im ungenutzten hinteren Teil des einstigen Kirchenraumes, der erhaltenen Apsis, installiert der Künstler eine mit Altöl bestrichene Treppe, deren Ende sich den Blicken entzieht. Per Video wird das Bild dieser Installation - aus der Froschperspektive und mit einem durchdringenden Signalton unterlegt - als Implantat in die Boutique übertragen. Zur gleichen Zeit läuft der Künstler in einem T-Shirt mit dem Logo der Boutique durch die Stadt: Rollentausch. Die Kunst, so lautet die un-erhörte Botschaft, ist Aufstieg und Ausstieg und wäre eine Alternative zum Warenleben, das vom wahren Leben so weit entfernt ist.


Konstanz: Transformationen

1991 reist Davor Ljubicic als Stipendiat der "Cité International des Arts" nach Paris und anschließend in die Schweiz. Nach einem kurzen Aufenthalt im bereits vom Krieg gezeichneten Slowenien nimmt er eine Einladung als 'artist in residence' in die Galerie Bagnato-Scheune in Oberndorf bei Konstanz an. Der Krieg verunmöglicht eine Rückkehr nach Jugoslawien, und Konstanz wird neuer Wohn- und Arbeitsort. Eine neue Werkphase beginnt.

Nach der Ausstellung "Anwesenheit" in der Galerie Bagnato-Scheune, in der ein mit Graphit imprägniertes, wie ein Mahnmal aufrecht gestelltes Boot im Zentrum steht - Metapher für die zum Stillstand gekommene Fahrt, die Lebensreise und Lebensverwandlung - folgt eine Installation im Stadttheater in Konstanz. Auf dem Boden des Foyers sind mit Kleidungsstücken gefüllte Brotlaibe ausgelegt. Ein Tonband nimmt Schritte und Stimmen der Theaterbesucher auf und spielt sie ab, wenn diese später das Gebäude wieder verlassen - Kommen und Gehen, Vorher und Nachher treffen aufeinander. Brote und Kleidungsstücke - die zentralen und notwendigsten (Über-)Lebensmittel - finden abermals Verwendung in der Meersburger Installation "Brot für Künstler". Von seinen Künstlerfreunden, inzwischen in der ganzen Welt verstreut, läßt sich Davor Ljubicic jeweils ein getragenes Hemd zuschicken; die Hemden bindet er zusammen mit selbst gebackenen und mit Graphit überzogenen Broten an und um die vier Säulen des Raumes.

Kurz darauf besetzt die "Galerie der Schwarze Punkt" den Keller des Konstanzer Kunstvereins. Ein an den Wänden entlanglaufender, nur einen schmalen Gang freilassender Elektrozaun, der unter Spannung steht, zwingt den Besucher, den Raum auf einem vorgeschriebenen Weg zu begehen. Darüber informiert, dass der dünne Draht unter Strom steht, erlebt er die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung einer äußerlich als harmlos eingestuften Situation und dem Wissen um die darin verborgene Gefahr und versteckte Aggression. Die genannten Installationen zeigen vielfache Bezüge zur politischen und persönlichen Situation des Künstlers und seines Landes, thematisieren aber zugleich grundlegende existentielle Erfahrungen des Menschen: Gewalt und Bedrohung, Not und Überleben, Machtlosigkeit und Ausgesetzt-Sein.

Seit seiner Übersiedlung in den Westen hat Davor Ljubicic damit begonnen, Objekte mit Graphit zu imprägnieren. Mit "Abdruck der Stadt" weitet er den Vorgang auf die Stadt, in der er nun als Fremder lebt, aus. Eine Stadt, deren pittoreskes Erscheinungsbild Prosperität und Selbstzufriedenheit bekundet. Unter Mithilfe von Teilnehmern eines Workshops, Bürgern der Stadt, nimmt er Graphitabriebe auf Papier von Straßen- und Wandstücken, von Wohnungseinrichtungen. Mit diesen kleidet er dann die Wände und den Vierpass der Decke im Durchgang des Wessenberghauses, der städtischen Kulturinstitution, aus. Den Aspekt der menschlichen Arbeit, auch des Physischen, wieder aufgreifend, hängt er die Anzüge, mit denen die Mitarbeiter während der Aktion bekleidet waren, dazu. Und in die Mitte des Raumes stellt er ein Tonband, beleuchtet von einer nackten Glühbirne, das seine eigenen Atemgeräusche konserviert - doch das Tonband bleibt stumm, es fehlt ihm der Stecker. In einer abschließenden Performance werden die Papierbögen in einem Aluminiumkasten eingeschweißt und an die Stadt übergeben.

Ab 1995 entsteht schließlich der mehrere Rauminstallationen umfassende Zyklus "D.G.D.Z.", ein Label, das als Kürzel für "Das Geheimnis des Zeichnens", "Das Geheimnis des Zeichners" und auch "Das Geheimnis des Zeichens" steht. Das Imprägnieren mit Graphit, dem Medium der Zeichnung par excellence, ist zum zentralen Akt geworden. Es bedeutet einerseits ein Auslöschen - die Assoziation an Ruß und Verbranntes taucht auf -, andererseits das Setzen von Zeichen und zeichenhaften Formen, insofern das Individuelle zugunsten eines einheitlichen 'Anstrichs' verschwindet und die Form als Zeichen hervortritt. Der Zyklus reicht von Rauminszenierungen, die von den Gegebenheiten des Ortes, dem 'genius loci' ausgehen, bis zu 'traditionellen' Ausstellungen von Arbeiten auf Papier.

Bereits verwendete Motive und Gegenstände tauchen wieder, jedoch in anderen Zusammenstellungen auf, neue kommen hinzu: die Treppe, das Hemd, die Glühbirne, das schwarze Kabel, der Spazierstock, das Flügelpaar, der menschliche Körper, architektonische Formen und der schwarze Kubus ziehen sich als roter Faden durch das Werk aus Zeichnungen, Objekten, Performances und Installationen. Vom Ursprung des Lebens über die Lebensreise bis zum Tod und der Verwandlung in neues Leben sind die existentiellen Themen des menschlichen Daseins angesprochen. Über alles legt sich die Schicht des silbrig-schwarz-grauen Graphit.

Die meisten der verwendeten Materialien und Gegenstände haben eine starke symbolische Aufladung, sind mit einer metaphorischen Tradition behaftet und lassen dadurch vielfache Bedeutungsassoziationen mitschwingen, ohne diese jedoch eindeutig zu besetzen. So steht der Spazierstock für den Menschen und seine Fähigkeit, mit Werkzeugen und Hilfsmitteln seine begrenzten physischen und geistigen Möglichkeiten zu erweitern und seinen Aktionsradius zu vergrößern. Gleichzeitig ist er das Utensil des von Hilfsmitteln und Prothesen abhängig gewordenen, seiner vitalen Kraft verlustig gegangenen modernen Menschen. Licht steht ebenfalls für Orientierung, für die geistige Erkenntniskraft des Menschen, während sich auf der lichtabgewandten Seite Schatten und Dunkelheit befinden. In Graphit und Honig, einem mineralischen und einem organischen Material, mit denen die Spazierstöcke imprägniert sind, wiederholt sich die Polarität von Starre und Beweglichkeit, von Festem und Veränderlichem, in der sich das menschliche Leben und die menschliche Kultur abspielen.


Rückkehr zum Bild

Weil sein Interesse mehr und mehr der Form und den Zeichen gilt und nicht einem erzählerischen Zusammenhang, den Installationen mit Objekten suggerieren, kehrt Davor Ljubicic zuletzt zurück zum Bild und den bildhaften Zeichen. Den Anfang machen großformatige Blätter, in denen der Vorgang des Imprägnierens auf Papier übertragen ist. Mit einem Graphitstift ist eine klar umrissene Form oder die gesamte Fläche bearbeitet. Unter dem dicken, mit Druck und sich wiederholender motorischer Bewegung ausgeführten Auftrag biegt und wellt sich das dünne Papier. Je nach Richtung der Strichbahnen ergibt sich ein anderer Winkel der Lichtreflexion, und die Flächen erscheinen je nach Standpunkt des Betrachters unterschiedlich: heller oder dunkler, glänzend oder matt. Die ausgesparten Linien, jene Stellen, an denen das Papier unberührt bleibt, bezeichnen eine Art von architektonischem Grundriss oder isometrischem Körper, oszillierend zwischen zwei- und dreidimensionaler Lesbarkeit.

Im weiteren Verlauf seiner Rückkehr zum Bild und zu den Zeichen verändert Davor Ljubicic den materialen Einsatz des Graphit. Graphitpulver ist nun mit doppelt gekochtem Leinöl gebunden und wird mit dem Pinsel auf Büttenpapier aufgetragen. Es wird damit schwerer, erdiger, materialer und erscheint nun in der Wirkung wie Teer oder Lava. Auch hier variiert Davor Ljubicic die Richtungen der Bahnen und gelangt so zu einer Binnenmodulierung und eigenartigen Räumlichkeit der Form. Er kombiniert und kontrastiert in diesen Blättern den schmalen mit dem breiten, den feinen mit dem groben, den schnell gesetzten mit dem langsam gezogenen Strich. Dabei überlagern schwere, fast flächige Linien und Formen fein gezeichnete, leichte Gebilde und Linien. Das ausfließende Leinöl, das sich ins Papier saugt, bildet einen weichen Hofe um die hermetisch dunklen Flächen.

Graphitieren und Imprägnieren

In seiner künstlerischen Arbeit, die mit Zeichnung und Malerei beginnt, dann in Aktionen, Performances und Installationen einen neuen Ausdruck findet und schließlich zum Bild zurückkehrt, hat Davor Ljubicic auf der Suche nach den ihm jeweilig gemäßen Darstellungsmitteln verschiedene Stationen durchlaufen. Dabei hat er im Graphit das für ihn geeignete Medium gefunden, mit dem er, sich von der traditionellen Auffassung der Zeichnung befreiend, zur Kunst des Graphitierens und Imprägnierens gelangt ist. Wobei der Akt des Zu- und Überdeckens mit dem erdigen, silbrig-glänzenden Material eine im doppelten Sinne aufhebende, d.h. die Dinge zugleich bewahrende und verwandelnde Transformation bedeutet. Wie das Graphit aus einem langwierigen Umwandlungsprozess hervorgegangen ist und damit das Produkt einer Metamorphose darstellt, so zielt Ljubicics Einsatz des Grahit auf die Umwandlung der mit dem Material überzogenen Gegenstände und Motive, letztendlich aber auf die Umwandlung der vorgefundenen Lebensumstände.


Andrea Hofmann, 2000, aus Davor Ljubicic, Ad usum internum

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