Davor Ljubičić  

"Deine Augen sehen die Welt anders"

Eine Rauminstallation von Davor Ljubicic

Die Bestandteile der Installation:
Ein Holzboot, ca. 5,50 Meter lang, schräg bzw. diagonal in der Längsrichtung des Raumes plaziert. Das Boot ist mit einem Graphit-Honig-Gemisch imprägniert, welches mit einem groben Pinsel wie eine Art "Unterwasser-Schutzanstrich" auf das Holz aufgetragen wurde. 
Auf dem Kielboden des Bootes in Längsrichtung liegt eine lange, schmale Plexiglasscheibe, die den Schriftzug "Deine Augen sehen die Welt anders" trägt.
Rechts und links der vorderen (Bug-)Seitenwände des Bootes stehen zwei Schichtholzplatten von 240x180 cm Größe, unbehandelt und eben. Darauf sind zwei Köpfe im Halbprofil gezeichnet, so, dass sie sich zugewandt sind: auf feinem Canson Zeichenpapier mit Bleistift 3B, von denen der Künstler je 2 1/2 Stück pro Zeichnung benötigte. Diese Köpfe von je ca. 180x150 cm Größe sind sich wie gesagt im Halbprofil zugewandt: Sie sind uns bereits aus anderen Installationen von Davor Ljubicic bekannt und symbolisieren sehr markant den Obertitel seiner Projektserie "Beziehungen" (vgl. Davor Ljubicic: Ad Usum Internum, Konstanz 2001, Katalog, Schmutztitel u. S. 29). Sie sehen sich in allen diesen Projekten ähnlich, ohne sich wirklich zu gleichen, sie weisen deutliche und im direkten Vergleich für jedermensch erkennbare Unterschiede auf. Sie haben keine konkrete Vorlage, sind also nie Abbilder von konkreten Menschen etwa, obwohl sie bei aller Abstraktion solche durchaus darstellen könnten. Dies jedoch ist vom Künstler gezielt nicht gewollt. Sie sind genau so vielfältig unterschiedlich, wie es die vom Künstler symbolisierten Beziehungen nur sein können. Sie haben also eine imaginäre, jedes Mal anders eingebildete Vorstellung von sich wenigstens teilweise zugewandten Wesen zur Vorlage. Des Künstlers Augen, eigentlich ganz in und von dieser Welt, sehen diese Welt also jedesmal gezielt anders.
Im Nebenraum sehen wir eine Super-8-Filmprojektion. Zwei Knaben tragen ein buntes Gummiboot. Die Projektion stammt von einer ca. 3,5 Meter langen Endlosschleife und wiederholt sich also ständig. Dies ist ein Verfahren, das wir ebenfalls von anderen Installationen unseres Künstlers kennen, etwa von seiner "Revoluzia" von 1998 (vgl. Davor Ljubicic: Ad Usum Internum, Konstanz 2001, Katalog, S. 30f.; es ist ein Video erhältlich, 7 min., Konstanz 2000). Die Besonderheit bei unserer heutigen Projektion ist jedoch der davor plazierte Bildschirm, besser Videomonitor, der einen "Film im Film" zeigt. Auf dem Monitor erkennen wir zwei Hände, die etwas vermengen. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir die Hände des Künstlers, die ganz offensichtlich das Graphit-Honig-Gemisch herstellen, mit dem das Holzboot übermalt werden soll (und übermalt worden ist). Es besteht also eine Beziehung zwischen den beiden räumlich getrennten Teilen beziehungsweise Aspekten der Installation. Die Beziehung spiegelt das Thema von Davor Ljubicic' Installationsserie "Beziehungen" wider, und zwar gleich auf vielschichtige Weise. Wenigstens vier Beziehungen kann man nachvollziehbar differenzieren.
1. Beziehung:
Der Künstler ist nicht nur durch sein abgeschlossenes Werk präsent, sondern auch "in effigie" als Teil seiner Projektion, repräsentiert durch seine aktiven, arbeitenden Hände, die wir dabei sehen, des Künstlers bevorzugtes "Malmaterial" zu- oder vorzubereiten. Dieses Malmaterial finden wir dann im unbewegten Teil der Installation wieder, wenn wir das verfremdete Holzboot betrachten. Das Boot war übrigens ebenfalls schon einmal in einer frühen Installation des Künstlers zu sehen (vgl. Davor Ljubicic: Ad Usum Internum, Konstanz 2001, Katalog, S. 19).
2. Beziehung:
Zwei Knaben, etwa 9 Jahre alt, tragen ein Gummiboot. Es ist ein buntes Boot, und das ganze Bild auf der Projektionsfläche sprüht förmlich vor Leben, Jugend, Leichtigkeit. Aber es kündigt sich bereits eine dräuende Veränderung an: Ältere Hände bearbeiten ein seltsames Material, von dem wir objektiv nichts wissen können, außer das es dunkel ist. Dieses Bild im Bild ist an sich bereits ein starker Kontrast und konterkariert die pure Lebensfreude des Hauptbildes. Im alten Kirchenlied heißt es: "Mitten wir im Leben stehn, sind vom Tod umfangen". Eine Ahnung davon wird hier durchaus vermittelt, wenn auch nicht ganz so krass wie die lutherischen Wahrheit. Denn die Hände in diesem Bild im Bilde sind ja lebendig, aktiv und - wenn wir es denn schließlich wissen - vermengen ein organisches mit einem anorganischen Material zu einer Mischform von Lebendigem und Totem, das aber heißt auch zu einem Ausgleich von Leben und Tod. Denn bevor Asche zu Asche wird, ist ein langer Prozess zu durchlaufen. So klingt die Ausgleichsbeziehung doch eher nach Aufbruch, nach Weitermachen, nach dem Prinzip "Leben durch Arbeit". Die beiden Knaben sind durch dieses Prinzip noch nicht berührt, sie leben noch ein "unmittelbares" Leben vor der Entfremdung durch Arbeit, noch vor der Erfindung der Arbeit als Prozess der Vermittlung und Selbstverwirklichung des menschlichen Lebens. Diese Prozess ist übrigens wiederum ein altes Thema des Künstlers (vgl. Katalog, S. 10-11). Ein Philosoph hat Arbeit einmal als "Sinngebung des Sinnlosen" bezeichnet. Sie ist aber viel mehr und viel bedeutsamer für die Menschen. Sie ist nämlich unsere materielle und damit einzig zählende Beziehung zu dem daraus entspringenden Produkt 'menschliche Lebenswelt'.
3. Beziehung:
Nach der Vermittlung finden wir die Knaben als Bleistiftzeichnungen wieder, entwickelt, erwachsen, durch den Lebensprozess angepasst bis zur schieren Ununterscheidbarkeit. Die Neigung ihrer Köpfe zueinander oder gegeneinander entspricht ihrer Kopfhaltung in einigen Momenten, während derer sie das Gummiboot tragen. Das Boot zwischen den Köpfen kann man jetzt nicht mehr tragen. Man kann es so auch nicht benutzen. Diese beiden Köpfe sehen die Welt anders als die Buben im Film. Sie sehen eine völlig andere Welt - und trotzdem leben sie in derselben. Nur die Wahrnehmung hat sich durch Entwicklung und Arbeit total verändert. Die werkenden Hände vermitteln beide Sichtweisen der Welt durch die Un-Gleichung: Leben = Arbeit / Leben ( Arbeit. Man sagt: die Arbeit der Kinder ist das Spiel - es führt zu nichts Produktivem und muss dies auch nicht, außer zum Erlernen gesellschaftlicher "Spielregeln". Die Welt der Erwachsenen ist dagegen durch die nach bestimmten Regeln geordnete gesellschaftliche Arbeitsteilung determiniert. In der Mathematik gehen Ungleichungen nur durch Manipulationen und Konventionen auf. Und wir alle wissen aber genau so gut, dass unsere Ungleichung ebenso und wirklich aufgeht. Warum? Weil wir die Seiten der Ungleichung denkend und handelnd vermitteln können. Das ist einer der wichtigsten kulturellen Aspekte des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Trotzdem grenzt es ans Wunderbare, dass es wirklich klappt. Und dies führt uns zu der wahren Schlussfolgerung, die aller Esoterik den Boden entzieht: Bei der Frage nach dem Sinn des Lebens kann uns keine Mystik und keine Magie zur Lösung führen, und es gibt auch keine Erkenntnis höherer Welten, die ohnehin zu nichts führt. Denn für den normalen Menschen gilt, sei er noch so gebildet und kunstinteressiert oder gerade auch deswegen: "Das eigentlich Mystische ist die Wirklichkeit". Es sei denn, wir begreifen, dass die Wirklichkeit unser eigenes Produkt ist. Auf diese unsere mittelbare Beziehung zur Welt verweist die hier zu sehende Installation von Davor Ljubicic.
4. Beziehung:
Wir sehen also, dass es im Wesentlichen unsere durch materielle und kulturelle Arbeit, diesen allgegenwärtigen und absolut notwendigen Transformationsprozess, geprägte Wahrnehmung und die davon abhängige Welt(er)kenntnis ist, die unsere Beziehung zur ansonsten gestaltlos bleibenden Außenwelt ausmacht. Trotzdem erleben wir die Wahrnehmungsinhalte auch und besonders in der Kunstbetrachtung als solche, die unser "Inneres" anrühren. In welcher Beziehung steht dieses Innere zur Lebenswelt, oder besser noch, wenn es ein Teil der Lebenswelt ist, wie konstituiert es sich als etwas scheinbar davon Abgesondertes?
Das ist eine der Grundfragen der Ästhetik als der Lehre vom Wahrnehmen und Begreifen, nicht nur des Schönen. Und ihre moderne Antwort lautet: Wir müssen uns an der Kunst und ihren Hervorbringungen ideell und materiell abarbeiten, um sie begreifen zu können. Das Verständnis moderner Kunstwerke fliegt uns nicht an, wir müssen viel, manchmal sogar sehr viel dafür tun. Und die Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit moderner Kunstkonzepte verlangt uns in jeder ihrer konkreten Ausformungen immer wieder auf's Neue eine spezifische Aneignungs-Arbeit ab. Wer sich einmal dieser Anforderung verweigert, wird unweigerlich den Anschluss verlieren. Das bedeutet: die Entwicklungen in der Kunst verfolgen und verstehen zu können verleiht uns erst die Fähigkeit, unsere Lebenswelt geistig und materiell zu verstehen und zu durchdringen. Nur was wir in der Kunst an Realitätsbeziehungen erkennen, wird in der Wirklichkeit für uns kein Rätsel mehr sein.

Dr. Johann-Peter Regelmann, 2001

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