Davor Ljubičić  

                                        
Rede zur Ausstellung O.T. (G-B) vom 8. Oktober 2004

Die heute zu eröffnende Ausstellung trägt den kurzen Titel: „O.T. (G-B)“. Wahrscheinlich werden Sie mir zustimmen, meine verehrten Damen und Herren, dass sich dieser Titel nicht auf den ersten Blick, d. h. leicht erschließt, auf der anderen Seite sind wir es von Davor Ljubicic gewohnt, dass er seine Ausstellungen mit genau bedachten Überschriften versieht. Es gelingt ihm, Formulierungen zu finden, die seine Werkgruppen semantisch auf den Punkt bringen und auf diese Weise uns als Betrachter zum genauen Hinschauen ver- und anleiten. Aus diesem Grund werde ich im folgenden auch darauf konzentrieren, eine Brücke zwischen dem Titel und den Bildformen zu schlagen.

Johann-Peter Regelmann hält in seinem, zur Ausstellung verfassten, Text fest, dass zwar wohl jeder, der auch nur ein klein wenig in der Kunst der Moderne bewandert ist, das Kürzel „o.T.“ ohne Schwierigkeiten als die gängige Abkürzung für „ohne Titel“ auflösen kann, aber er seine Probleme mit dem in Klammern gesetzten Zusatz: „G-B“ haben dürfte. Er steht als Abkürzung für, wie Regelmann uns in seinem Text aufklärt, “Gewalt-Bilder“. Somit wird der, durch „o.T.“, für den Betrachter, ganz im Sinne neukantianischer Weltauffassung freigegebene Assoziationsraum bei der Betrachtung der Bilder, d. h. ihrer Darstellungen, wieder eingeengt. Ganz unweigerlich wird der Betrachter – diese nun gegebene Entschlüsselung immer mitdenkend – bei der Betrachtung der Bilder nach jener Gewalt suchen, die der gesamten Werkreihe ihren Namenszusatz gab. Aber er wird keine Gewalt in den Darstellungen finden.

Was er sieht sind Zeichnungen auf Papieren der immer gleichen Größe, wobei allerdings mehrere Papierbögen zu einem einzigen Werk zusammengesetzt werden können, und alle bestehen überwiegend aus den beiden Farben Rot und Schwarz. Bei weiterer Untersuchung lässt sich feststellen, dass die schwarze Farbe immer auf der roten liegt und gegenüber dieser meist auch pastoser aufgetragen ist. Die wie mit einem großen Pinsel gezogenen dunklen Linien nehmen an ihren Rändern und gerade auch an ihrem jeweiligen Beginnpunkt fast plastische Dimensionen an. Sie stehen glänzend und massereich auf der papierenen Unterlage, so dass das unter dem Schwarz liegende Rot nur dort hervortreten kann, wo es vom Schwarz nicht überdeckt wird. Sollen wir darin Gewalt erkennen?

Konzentrieren wir uns auf das Wechselspiel von glänzend opakem Schwarz, dem fast lasierend aufgetragenen Rot und dem, unter der Einwirkung des Öls zweifarbig gewordenen Papiers, so erkennen wir jedoch vor der Hand keine Gewaltformationen, sondern Farbstrukturen von hohem ästhetischen Reiz. Wir beginnen vielleicht Baumstämme oder Grundrisse von großen Gebäuden, mittelalterlichen Kirchen oder ganzen Gebäudekomplexen, aus den Farbspuren heraus zu lesen, ohne diese jedoch genauer bestimmen zu können. So ephemer die Bilder sind, die wir mit den Bildformen assoziieren, so wenig scheinen sie uns Antwort auf die Frage zu geben, wieso das „Gewalt-Bilder“ sein sollen?

Neben den beschriebenen, pastos über die Bildfelder laufenden Schleifspuren, findet sich eine zweite, ebenso typische Malspur: Sie ist im Gegensatz kreisrund und im Bezug auf ihre Lage im Bildfeld ortsstabil, aber in ihrer stofflich-materiellen Ausformung weniger plastisch als die Schleifspuren. Zweifelsohne sind diese Formen nicht mit dem Pinsel entstanden, wie ihre Binnenzeichnung verrät und die kreisrunde Form mitsamt der plastischen Vorwölbung an ihrem Rand legt die Assoziation an einen Krater, dass heißt eine Einschlagstelle, nahe. Die aus Graphit und Leinöl bestehende Farbmasse scheint durch eine unsichtbare Kraft aus dem Zentrum zu den Rändern der kreisrunden Form hin verdrängt worden zu sein und – ganz ohne Zweifel – muss die Kraft sehr plötzlich auf die Farbmasse eingewirkt haben. Anders wären die Farbverläufe nicht zu erklären. Es drängt sich die Frage auf, ob Davor Ljubicic seine Papiere, ähnlich den Künstlern aus dem Umkreis der Nouvelles Realistes, mit Farbe beworfen oder beschossen hat? Ist das mit „Gewalt“ gemeint?

Die Spur, die wir damit aufgenommen haben, ist die Richtige. Krater und Schleifspuren sind auf vergleichbare Art entstanden. Davor Ljubicic füllt Damen-Feinstrumpfhosen mit dem Graphit-Leinöl-Gemisch und schlägt damit entweder im Bogen auf das Papier ein, wobei der Malstrumpf manchmal beim Aufschlag platzt und seinen Farbinhalt explosionsartig auf das Papier entlädt. Die charakteristischen Schleifspuren entstehen demgegenüber beim Zurückziehen des Strumpfes. Die Krater hingegen verdanken ihre Form dem senkrechten Fall, wodurch die Ortsfestigkeit der Form zum einen geklärt, zum anderen auch die geringere Pastosität. Denn die Form, die uns auf die Spur der Entschlüsselung des Gewaltbegriffes gebracht hat, ist mit deutlich weniger Kraft erzeugt, als die Schleifspuren. Die Krater, die unsere Assoziationen im Zusammenspiel mit dem vermeintlichen Architekturformen in die Richtung von Krieg, Bomben und gezieltem Angriff gelenkt haben mögen, verdanken sich im Grunde einzig der Schwerkraft, wenngleich vom Künstler gezielt und gerichtet eingesetzt.

So kommen wir nicht umhin, mit Blick auf diesen, durch die Verwendung der Abkürzung im Titel so zentral gestellten Begriff ‚Gewalt‘, differenziert zu betrachten. Neben den beiden schon beschriebenen Formen findet sich auf anderen Werken ein verschlungenes, scheinbar inneren Vorgaben gehorchendes Lineament, dessen Spuren deutlich verraten, dass es sich hierbei um die Spur eines Pinsels handelt. Davor Ljubicic entwirft dieses Muster ohne Vorzeichnung – nach eigenen Worten hasst er Vorzeichnen – direkt auf dem Papier, allerdings mit einer klaren Vorstellung von ihrem späteren Aussehen. Das Bild ist schon gemalt, bevor der Pinsel zum ersten Mal in die rote Farbe eintaucht.

In einem weiteren Arbeitsprozess wird dieses Muster, in anderen Werken können es auch ganze Flächen sein, die rot eingefärbt werden, zu großen Teilen flächig von der Graphit-Öl-Masse überdeckt. Zwar geschieht dieser Überdeckungsprozess in sehr malerischer Manier, wobei auch hierbei der Pinsel durch den Strumpf ersetzt wurde. In kreisenden und in Linien verlaufenden Bewegungen wird die rote Farbe fast sanft wieder unsichtbar gemacht, wird ihrer optischen Präsenz beraubt – die bislang sanfteste Gewalt-Art.

Aber wir finden eine noch ruhigere Form. In einigen Werken fügt Davor Ljubicic zwei oder drei Blätter, die zuvor als Unterlageblätter überschüssiges Öl und Pigmente schon fertiger Arbeiten aufgesaugt hatten, in einer Art Sandwich zusammen. Durch das in die Papierfasern der Blätter eindringende Öl verlieren die einzelnen Blätter ihre papierne Undurchsichtigkeit und werden zu transparenten Bildträgern. Die Farbzeichnungen auf den einzelnen Papier-Ebenen vereinigen sich zu einem einzigen Bildeindruck, wie die Lasurschichten in altmeisterlich gemalten Ölgemälden. Diese, auf einem physikalischen Vorgang beruhende Veränderung, mag die sanfteste, von Davor Ljubicic im Entstehungsprozess seiner Bilder angestoßene Veränderung sein.

Nachdem wir somit – angestiftet durch den auf den ersten Blick mehr verwirrenden denn erklärenden Titel der ausgestellten Werkgruppe – mögliche Deutungen für die Abkürzung „(G-B)“ aufgezählt haben, möchte ich zum Schluss meiner Ausführungen versuchen, die einzelnen Beobachtungen zu einem gesamten Bild zusammenfügen.

Wenn Davor Ljubicic seine Bilder „Gewalt-Bilder“ nennt, so macht er damit für den Betrachter seiner Werke eine hinter der materiell erfahrbaren Oberfläche liegende Wahrheit sichtbar. Die Gewalt tritt nicht formal oder literarisch innerhalb der bildlichen Darstellung zutage, sondern Davor Ljubicic verweist uns in der Suche auf einen Weg weg von einer assoziativ determinierten Sichtweise hin zu einer konkreten Spurenauswertung; weg vom Was und hin zum Wie. Unter diesem Blickwinkel erkennen wir die indirekte Visualisierung der Gewalt, d. h. wir erkennen sie als Teil der beschriebenen Prozess-Spuren. Wir erkennen in ihnen die formalen Überreste der Bewältigung des, wie es Johann-Peter Regelmann nennt, „großen Rahmenthemas“: „Was Davor Ljubicic in Wirklichkeit tut, ist Kunstwerke als Systeme struktureller Gewalt zu entwerfen, die bei ihrer Ausführung der real-physischen Gewalt bedürfen.“

Die dem Prozess der Bildwerdung inhärente Gewaltanwendung wird so vom Thema, ihrer bildlichen Darstellung, zur Basis, dem Kunst schaffen überhaupt, gemacht. In dem so veränderten Koordinatensystem Künstler – Werk – Schaffensprozess umschreibt Gewalt auf dieser Ebene nun ganz grundsätzlich die Bedingungen künstlerischer Arbeit. Beschrieben wird der ästhestisch-künstlerische Akt der Werkproduktion als Eruption von unterschiedlicher Stärke und Intensität. Der Moment des Auftreffens des mit Öl und Graphit gefüllten Malstrumpfes auf dem Papier definiert so nicht nur faktisch den Moment der Formfindung innerhalb eines konkreten Werkes, sondern umschreibt auf einer Metaebene gleichzeitig auch die vor jeder künstlerischen Aktion überhaupt zu fällende Entscheidung künstlerisch tätig zu werden. Gänzlich unabhängig davon, ob sich hierbein letzten Endes um figürliche, abstrakte oder gegenstandslose Kunst handet. Der Moment des Auftreffens, des Zerplatzens und Formgebens markiert so das Zentrum künstlerischer Arbeit.

Assoziationen, die angesichst dieser vollkommen autonomen Figuren vor unserem geistigem Auge aufscheinen und die Sicherheit durch vermeintliche Identifiktionsmöglichkeit anbieten, lehnt Davor Ljubicic nicht ab, erkennt in ihnen sogar hilfreiche erste feste Tritte in unbekanntem, unsicherem Terrain, wohl wissend jedoch, dass er damit den Betrachter seiner Bilder auf eine falsche Fährte lockt. Kaum anzunehmen, dass dieses zufällig geschieht, vielmehr ist darin wohl die letzte, noch aufzuführende „Gewalt“-Form zu entdecken. Sie allerdings manifestiert sich nicht in Formen des Malprozesses, sondern in der Form der Rezeption des Werkes: Verharren wir in der Sicherheit der Assoziation oder können wir uns dazu zwingen, von dieser Sicherheit zu lassen, um auf Entdeckungsfahrt zu gehen.

Dr. Dirk Blübaum

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